Bei der Finissage des ersten Kammersteiner Kunstpreises am 23.Juni 2022 hat der Vorsitzende der Jury, Dr. Harald Tesan, die drei von der Jury ausgezeichneten Kunstwerke wie folgt charakterisiert und gelobt:
Auszug aus der Laudatio
von Dr. Harald Tesan
anlässlich der Kunstpreis-Verleihung
in Kammerstein am 23. Juni 2022
1. Preis: Mathias Otto, "Nebel Zone 30"
„Der erste Preis in Höhe von 1.000 Euro geht an einen Maler, der das Kunstlicht, damit den Schein der Lampe, zu seinem Leitthema erkoren hat. Seine Nachtbilder beschreiben auf poetische Weise alltägliche, menschenleere und deshalb immer etwas unheimliche Orte in unseren Städten. In unserer Ausstellung schildert der Künstler eine geradezu banale Situation, wie sie wohl jeder Autofahrer kennt. Wir blicken eine leicht ansteigende, auf beiden Seiten zugeparkte Wohnstraße entlang.
Zwar gibt es den geradezu sprichwörtlichen Lichtschimmer am Horizont. Dieser bleibt aber mehr als nebulös; genau wie das vermutlich von einer Laterne herrührende Licht, das zusätzlich durch das Geäst eines Baumes gestreut wird. Wie ist die in jeder Hinsicht zwielichtige Situation zu verstehen? Vielleicht als Warnung, dass wir uns im Straßenverkehr selbst bei geringer Geschwindigkeit nie in Sicherheit wägen sollten? Oder vielleicht als weiter reichende Zivilisationskritik?
Nicht ohne Augenzwinkern scheint die lapidare „30“ auf der Fahrbahn aufgemalt. Ich zumindest interpretiere das in differenzierten Brauntönen gehaltene Bild als ironische Metapher; als artifiziellen Seitenhieb auf die Inkonsequenz und letztlich Scheinmoral in unserer Gegenwartskultur. Stecken wir nicht mehrheitlich mit 120 PS im Stau der Entwicklungsresistenz? Während wir mantra-artig von Nachhaltigkeit und Klimawandel reden, bleiben wir funktionierendes Zahnrädchen im Getriebe des Immerschneller, Immerhöher, Immerweiter.
Ein Ende dieses Wegs voller Lippenbekenntnisse und Krokodilstränen ist nicht abzusehen. Die Zukunft bleibt ominös, verborgen hinter der Kuppe einer leichten Anhöhe. Ob der Kunsthistoriker mit dieser Interpretation richtig liegt, mag jeder selbst entscheiden. Die Jury jedenfalls würdigt Nebel, Tempo 30 als herausragende Leistung.”
2. Preis: Bettina Graber-Reckziegel, "Das Versteck - die kleine Kammer"
„Der zweite Preis in Höhe von 800 Euro gebührt einer Arbeit, die übliche Gattungsgrenzen hinter sich lässt. Ursprünglich als Keramikerin ausgebildet, ist die Künstlerin ihrem Material bis heute treu geblieben. Immer wieder hat sie es verstanden, die Keramik aus den Bedingungen der angewandten Künste herauszulösen.
Auf einem alten Tisch erhebt sich ein Ensemble hüttenähnlicher, einfacher Behausungen. Sie könnten irgendwo im Wald, oder zumindest abseits größerer Ansiedlungen, stehen. Innerhalb der puppenhausartigen Installation sticht ein Anbau heraus. Er ist nicht aus rustikalem Holz gefertigt, sondern aus teilweise rot bemalter, weißer Keramik. Das Versteck hat etwas Cleanes, Frostiges, wie die gekachelten Wände eines Schlachthauses. Und besteht das Tapetenmuster dieses künstlichen Raumes nicht aus einem blutroten Ornament?
Spätestens jetzt dürfte einen das pure Entsetzen erfassen angesichts solch sezierend zur Schau gestellter Biederkeit. Hat in diesem Versteck ein grausiges Verbrechen stattgefunden? Was hat es mit der gänzlich in Rot gehaltenen kleinen Kammer auf sich? Hat hinter einer bürgerlichen Fassade häuslicher Missbrauch stattgefunden oder haben Flüchtlinge beziehungsweise Verfolgte hier vorübergehend Schutz gefunden? Unterschlupf oder Gefängnis – die Glühlämpchen bringen auch nicht mehr Licht ins Dunkel. Letztlich bleibt es unserer Vorstellungskraft überlassen, die mysteriöse Anordnung mit einer dahinterliegenden Geschichte zu ergänzen.
Für das sehr aktuelle Pendeln zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, ja dafür, dass wir uns zu konträren, gleichberechtigten Deutungsmöglichkeiten animiert fühlen dürfen, vergeben wir den zweiten Preis.”
3. Preis: Margit Schuler, "Was bleibt"
Die mit dem dritten Preis in Höhe von 500 Euro ausgezeichnete Arbeit widmet sich einem Thema, das uns alle betrifft, die wir immer länger leben und zugleich ewig strahlend und sexy aussehen wollen. Tatsache ist, dass unsere Gesellschaft immer älter wird, es zugleich aber niemand so recht zugeben will, dass auch er den Weg allen Irdischen geht. Die Schönheitsund Konsumgüterindustrie bedient den Kult der ewigen Jugend mit ihrer Ästhetik des Immerneuen. Die Würde des Alters wartet derweil auf ihre Wiederentdeckung.
Dann das Porträt eines alten Menschen, im übergroßen Format, noch dazu mit geschlossenen Augen. Tief in die Haut eingegrabene Furchen und persönliche Erkennungsmerkmale sind Indizien dafür, dass ein treues Erinnerungsbild eines ganz bestimmten Menschen vorliegt. Das nur ihm eigentümliche Aussehen zeichnet das Individuum aus. Als Betrachter beginnen wir, uns das Schicksal dieser unbekannten Person vorzustellen.
Der Titel des Gemäldes “Was bleibt” deutet an, dass dieser Mensch nicht nur schläft. Damit eröffnet sich ein komplexes Feld an Bedeutungsebenen. Offensichtlich geht es um die allerletzte, ganz große Frage, die alle Religionen und Philosophien seit jeher umtreibt. Auf anrührende Weise und dennoch ohne falsche Sentimentalität spürt die Malerin den eigentlich unermesslichen Tiefen im Gesicht ihrer Protagonistin nach.
Die malerische Annäherung an einen Toten erfolgt mit gebührendem Respekt. Mit zartem, ja fast scheuem Pinselduktus werden Braun- und Rottöne auf die weiße Leinwand getupft. Die feinnervige, nahezu aquarellierende Handschrift erscheint dem Thema angemessen. Die subtile Gratwanderung zwischen Individuellem und Archetypischem, zwischen Nähe und Distanz, verdient den dritten Preis.”
Publikumspreis: Isabell-Heusinger, "Welcome-to-Paradise!"